Wir sind daran, die Wirklichkeit zu verlieren…
Virtuelle Meinungsmacher
Die Menschen in Europa und in der Schweiz, die Gesellschaft, die Politik, die Medien verlieren den Bezug zum realen Leben zunehmend. Das hat mit der Qualität unserer Informationsquellen zu tun. Ob in der Stadt oder im Dorf, wir verlassen uns immer mehr auf virtuelle Versatzstücke, die bereits bearbeitet, interpretiert, vorgekaut, abgeflacht oder verbraucht sind. Die massenmedialen Informationsträger kupfern sich gegenseitig Texte, Bilder und Meinungen ab. Kritische oder vertiefende Informationen haben im Zeitalter des schnellen Überfliegens keinen Platz. Meinungen, wenn wir überhaupt eine haben, beruhen auf Aussagen von anderen, auf Vorurteilen, auf Statistiken oder manipulierten Umfragen.
Kommunikation
Die Begegnung und das Gespräch mit anderen Menschen findet meistens noch virtuell statt. Sie wird reduziert auf Geschäftliches, Bruchstücke von Texten, unvollständige Aussagen, undifferenzierte Meinungsäusserungen und Platitüden. E-Mails, Whatsapp, Chatforen, SMS und MMS kultivieren unsere zunehmende Sprachlosigkeit. Wir benutzen icons und likes und Fotos, auf denen wir strahlen oder Faxen machen. Wir wollen bei anderen möglichst cool rüberkommen, die sollen nur ein bisschen neidisch werden. Die Selfie-Manie in den sozialen Medien zeigt uns oft in bester Stimmung, in illustrer Gesellschaft, dabei meistens mehr oder weniger mit Alkohol angereichert. Wir wollen das Signal senden: heh, schaut mal, mir geht es super! Dabei steht oft unkritisch in Kauf genommener Gruppendruck dahinter. Im Einzelnen sieht es meistens ganz anders aus. Wir meinen, damit zu kommunizieren, mit anderen in Kontakt zu sein – in Wahrheit vestehen wir uns gegenseitig nicht mehr. Echte Gespräche finden aus Zeitmangel, Desinteresse oder Unfähigkeit kaum mehr statt.
Vermeintliches Gesellschaftsleben
Viele leiden unter Mangel an Liebe, Zuneigung, Respekt und Verständnis. Wir stecken viel Energie und Aufwand in die Pflege eines einigermassen für uns stimmigen und schönen Bildes nach aussen. In der Hoffnung auf Anerkennung durch andere bauen wir ein künstliches Selbstbild mit entsprechendem Selbstwertgefühl auf. Die Arbeit, Konkurrenzkämpfe, Motivationshemmung, Burnout, Überforderung, Beziehungsprobleme, Alltagsstress frisst uns auf. Die knapp übrig gebliebene freie Zeit verbringen wir vor dem Fernseher, dem Smartphone, dem Computer oder mit Alkohol. In Gesellschaft unterwirft man sich wiederholt den üblichen Ritualen: man isst etwas, macht ein bisschen Sprüche, nimmt andere hoch, lästert über dies und jenes und schüttet den Frust mit Bier, Wein oder anderen Alkoholika zu. Oder man fährt in einem Club oder an einer Party ab und lässt mal wieder richtig die Sau raus. Nur Privilegierte leisten sich Hobbies, treiben Sport, bewegen sich in der Natur, geniessen oder machen selber Kultur. Neben oder nach der Arbeit führen viele ein Leben in Einsamkeit, oder suchen eifrig nach dem nächsten Kick, dem Aufsteller, der Sensation. Genussmöglichkeiten wie Essen, Alkohol, Sex oder Musik verkommen zu Suchtmitteln, welche schnell zwischendurch eingeworfen werden, um die Stimmung zu heben.
Wo bin ich selber?
Die reale Welt, das direkte Erleben kommt uns immer mehr abhanden. Zeit, mit sich allein, um in sich hineinzuhorchen und zu spüren, ob man noch geerdet ist, fehlt oder macht uns Angst. Ungelöste Konflikte und Frust belasten unseren Alltag. Die Natur mit ihrer Vielfalt findet vielleicht noch anlässlich eines Sonntagspaziergangs Beachtung. Echte und innige Begegnungen mit Menschen, tiefe, vielleicht auch schwierige Gespräche werden verschoben oder gemieden. Dafür lassen wir uns vom Weltgeschehen, das real sehr wenig mit uns zu tun hat, vereinnahmen, Angst einjagen oder uns die Stimmung verderben. Natürlich passiert jeden Tag unendlich viel Tragisches in unserem globalen Dorf, aber ganz selten hat es wirklich etwas mit uns zu tun und noch seltener können wir etwas dazu beitragen, ein Problem weit weg von uns zu lösen.
Hermann Hesses Zitat: „Fühle mit allem Leid der Welt, aber richte deine Kräfte nicht dorthin, wo du machtlos bist, sondern zum Nächsten, dem du helfen, den du lieben und erfreuen kannst“ hat an Aktualität nichts eingebüsst.
Wir dürsten nach Liebe…
Empathie, Verständnis und die Anerkennung der Menschen in unserer nächsten Umgebung fällt dem hektischen und verkrampften Jagen nach eigener Anerkennung zum Opfer. Wir dürsten nach Liebe, nach Wertschätzung und Respekt und vergessen dabei, andere zu lieben, wertzuschätzen und zu respektieren. Unsere Sinne werden abgestumpft, virtuelles oder eben digitales strapaziert höchstens noch unsere Augen und Ohren. Ganzheitliche Sinneserlebnisse haben da keinen Platz. Da auch die virtuelle Welt unsere Gefühle bedient, lassen wir uns von ihr gerne echtes Leben vortäuschen.
Lässt sich diese Weltentfremdung aufhalten?
Können wir die Digitalisierung des Individuums noch bremsen oder gibt es ein vernünftiges Nebeneinander oder Miteinander von realem und virtuellem Leben? Widmen wir uns zuerst uns selber. Schauen wir wie’s uns geht. Wie stehts um unsere Gesundheit? Fühlen wir uns wohl in unserer Haut oder sendet uns der Körper irgendwelche Signale, auf die wir nicht mehr gehört haben? Leben wir unser Leben noch in der realen Welt oder haben wir uns ins Virtuelle verabschiedet? Tragen wir Ängste mit uns herum, denen wir uns nicht stellen konnten oder die wir bisher nicht auflösen konnten? Belasten uns ungelöste Konflikte, die wir angehen und lösen sollten? Woraus ziehen wir unsere Lebensenergie? Welche Suchtverhalten haben wir uns bewusst oder unbewusst angeeignet? Wo hat sich ein Genussmittel in ein Suchtmittel verwandelt, von dem ich abhängig bin? Ist es Schokolade, der Fernseher, das Internet, das Smartphone oder etwa Facebook? Bin ich alkoholabhängig oder sexsüchtig? Ist mein virtuelles und mein reales Leben noch im Gleichgewicht?
Wege
Es gibt Leute, die haben nach einem Burnout wieder den Weg zu sich selber gefunden. Es gibt aber auch schon vor einem Burnout oder einer Krankheit viele Möglichkeiten, sich wieder mit seinen eigenen Werten und Vorstellungen, seinem Weltbild, seinem Selbstbild auseinanderzusetzen. Sich wieder einmal nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Manche machen das für sich allein. Pilgern zum Beispiele über Wochen nach Santiago di Compostella. Oder gehen in ein Kloster. Andere lassen sich beraten, gehen in Therapie oder Selbsthilfegruppen. Wenn wir wieder anfangen, achtsam mit uns selber zu sein, haben wir auch wieder Achtsamkeit für die Natur, unsere Mitmenschen und das reale Leben. In dieser kurzen Geschichte ist das Thema Achtsamkeit überzeugend dargelegt:
Ein weiser und zufriedener Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so glücklich sein könne.
Er sagte:
"Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich liebe, dann liebe ich ..."
Dann fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten:
"Das tun wir auch, aber was machst Du darüber hinaus?"
Er sagte wiederum:
"Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich ... "
Wieder sagten die Leute:
"Aber das tun wir doch auch!"
Er aber sagte zu ihnen:
"Nein -
wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon,
wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel."
Achtsamkeit
Nehmen wir uns doch wieder mehr Zeit für Achtsamkeit. Überall dort, wo wir der Natur, dem Leben, den Menschen begegnen. Daraus entsteht Zufriedenheit, Selbstachtung und Selbstbewusstsein. Versuchen wir doch auch, uns wieder schwierigen Situationen zu stellen, anstatt sie zu verdrängen oder mit Pseudofröhlichkeit zu verdecken. Stehen wir zu unseren Fehlern, daraus können wir lernen. Stellen wir uns unseren Ängsten, das macht uns mutiger. Seien wir offen und ehrlich, schliesslich leben wir in einem Land, in dem das glücklicherweise möglich ist! Dass daneben die virtuelle Welt nicht verloren geht, dafür ist in der weiteren Entwicklung der digitalen Errungenschaften ausreichend gesorgt.