Seit einiger Zeit bin ich im sogenannten Ruhestand. Mit Inbrunst habe ich eine lange Zeitspanne als Lehrer gearbeitet und gerne unterrichtet, die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern war meine grosse Leidenschaft. Die täglich neuen Aufgaben waren eine Bereicherung, manchmal haben sie mich auch bis an die Grenzen gefordert. Ich mochte die Kinder, welche immer wieder mit sprudelnden Ideen, viel Energie und oft auch mit Freude meinen Alltag belebten, zwischendurch auch gehörig erschütterten. Es war anregend, nach neuen kreativen Lösungen zu suchen im Umgang mit unerwarteten Stolpersteinen, die der Schulalltag jederzeit bereithielt. Es war hilfreich und aufbauend, im Team über einzelne Kinder zu diskutieren und nach Strategien zu suchen, wie diese speziell gefördert oder besser in die Klasse integriert werden konnten. Ich genoss es, neue Arbeitsformen auszuprobieren und freute mich über erfolgreiche Projekte. Wir feierten Resultate nach schwierigen Prozessen und schlichteten Konflikte, fanden Lösungen und neue Wege. Ich lernte, mich mit andersdenkenden Kolleginnen und Kollegen zu arrangieren, mich über gemeinsame Erfolge zu freuen und Misserfolge zu verarbeiten. Schulentwicklung hat mich interessiert, teilweise begeistert, konnte man die Schule doch immer noch irgendwo verbessern. 36 Jahre Lehrerberuf, und jetzt das! Ich hätte es mir vor fünf Jahren nicht träumen lassen! Ich höre auf, als Lehrer zu wirken? Meine Berufung sollte ich einfach aufgeben, meine Visionen begraben und mich auf die Wartebank für die letzte Ruhestätte setzen? Kommt nicht in Frage!
Als erstes begann ich, Abschied zu nehmen vom Mythos, dass Arbeit das einzig Seligmachende und Sinnstiftende ist. Ab jetzt galt: Hinunterfahren, zur Ruhe kommen, einen veränderten Rhythmus suchen und finden; Zeit bekommen für Neues und Anderes. Was mir zu Beginn als Leere im Alltag erschien, verwandelte sich Stück für Stück in anregendes Neuland. Schlummernde Fähigkeiten und Bedürfnisse machten sich wieder bemerkbar und eroberten sich ihren Platz. Mein verdrängter Traum vom selber gestalteten Alltag drängte sich kraftvoll in mein Bewusstsein zurück und konnte sich in meiner neuen Realität einnisten. „Das Leben geniessen“ wurde zum bewusst gestaltbaren Ritual. Endlich war wieder Zeit für Partnerschaft und Familie vorhanden, welche während des Berufslebens notdürftig zusammengekratzt werden musste und oft nur an Wochenenden oder in den Ferien da war. Plötzlich können wir wieder Gäste empfangen und Freunde besuchen. Meine Freude am Kochen hat wieder einen Platz in meinem Leben bekommen. Meine handwerklichen und gestalterischen Ambitionen kann ich verwirklichen. Neue Projekte sind entstanden, deren Umsetzung die Tage oft mehr als füllen. Ich habe wieder Zeit zum Reisen und für Kultur. Zwischendurch geniesse ich das reine Sein. In manchen Träumen wird mir jedoch bewusst, dass mein ach so geliebter Schulalltag nicht immer nur so locker verdaubar war. Schwierige Elterngespräche, ärgerliche Konflikte und Störungen im Unterricht tauchen sporadisch in manchen Nächten auf. Eine Klasse verläuft sich auf dem Schulausflug, ein Kind geht verloren oder es passiert etwas Schreckliches. Auch ätzende Sitzungen, unerledigter Papierkram und unlösbare Probleme durchziehen immer noch zwischendurch mein Traumleben. Am Morgen stelle ich dann mit Erleichterung fest, dass diese grosse Verantwortung und die viele Arbeit nur noch im Traum auf mir gelastet hat. Ich atme auf und geniesse die neue Freiheit und bin dankbar, dass ich gesund hier angekommen bin. Für mich steht fest: nichts ist vorbei, es hat soeben etwas begonnen!
twb