Beobachtungen
Ja, ich geb’s zu. Ich bin ein Beobachter. Vorzugsweise betrachte ich Szenen aus dem realen Leben mit Menschen. Als Augenmensch und Zeichner habe ich mein Beobachten lebenslang kultiviert. Habe gelernt, genau hinzuschauen, zu analysieren, einzuschätzen und festzustellen, manchmal auch mit meinem Bleistift oder dem Pinsel festzuhalten. Es macht Spass zu beobachten. Es ist bereichernd, ich geniesse es.
Gerne sitze ich in einem Café, draussen an der frischen Luft, in einer Stadt, am liebsten in einer belebten Strasse und beobachte Menschen. Ich studiere ihre Mimik, ihre Körperhaltung, ihre Bewegungen. Ich freue mich über die Vielfalt der unterschiedlichsten Kulturen. Ich bewundere die reichhaltige Palette von Bekleidungsmöglichkeiten, von Frisuren, Taschen und sonstigen Accessoires. Jeder dieser Menschen strahlt eine spezielle Stimmung aus. Manche sind fröhlich, konzentriert, ruhig, ins Gespräch vertieft, am Telefonieren, nervös, hektisch, stolz, abgelöscht, traurig oder sonst in einer Stimmung.
Kürzlich war ich wieder in Basel. Ich geniesse Basel jedes Mal und nehme mir, wenn es geht, Zeit, um in der Stadt zu flanieren und irgendwo etwas zu trinken. Und Menschen zu beobachten. Am Barfüsserplatz, in der Steinen, in der Altstadt oder im Kleinbasel am Rhein. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage und man konnte die Sonnenstrahlen unter beinahe wolkenlosem Himmel geniessen. Am unteren Rheinweg war ein Gedränge wie am Morgenstraich. Ich setzte mich ins Rhywyera und bestellte etwas zu trinken. Es war herrlich zuzusehen, wie die Menschen aus allen Kulturen dort herumpilgerten, miteinander schwatzten, joggten, mit Rollerblades vorbeiflitzten oder sich auf dem Velo klingelnd einen Weg durch die Menge bahnten.
Manchmal sitze ich auch am Bahnhof. Genauer gesagt, in der Passarelle, die vom Nordeingang ins Gundeli führt. Bevor ich auf den Zug muss, plane ich jeweils etwas Zeit ein, um mich dort in einem der Bistros hinzusetzen und einen Kaffee oder ein Bier zu geniessen. Ich finde einen freien Tisch und setze mich. Rechts von mir sitzen zwei ältere Herren mit Stangen, einer raucht einen Stumpen. Sie scheinen einander länger nicht gesehen zu haben und haben sich einiges zu erzählen. Zu meiner Linken befindet sich eine ältere Frau mit einem Hündchen in einer Tasche auf ihrem Schoss. Sie trägt einen abgewetzten Mantel, hat graue strähnige Haare, eine ungesunde Gesichtsfarbe und schaut mit müden Augen zu ihrem Hündchen. Sie spricht mit ihm, während sie an ihrem Kaffee nippt und ein Stück Kuchen isst, von dem sie abwechselnd dem Hund und sich einen Bissen verfüttert. Ich verstehe nicht, was sie murmelt.
Vor mir fliesst in beide Richtungen ein Strom von Menschen vorbei. Er pulsiert in einem ungleichmässigen Rhythmus und verändert sich stetig. Stossweise kommt dichtes Gedränge auf, dann löst es sich wieder auf in ein Plätschern von einzelnen Menschen, manchmal erscheint es beinahe menschenleer bis der nächste Pulk folgt. Wie durch eine unsichtbare Macht gesteuert, stossen die sich hastig entgegenkommenden Gestalten nicht zusammen. Mein Beobachterposten ist bezogen. Zur Sicherheit habe ich einen Skizzenblock dabei, in den ich Stichworte notiere, oder auffällige und ungewöhnliche Details zeichne. Meine Augen sind die Kamera. Ich verfüge über Weitwinkel, Zoom und Zeitlupenfunktion. Die Bilder werden gespeichert. Im Kopf entstehen Geschichten. Bahnhofsgeschichten.
Die Papierrolle
Ich beobachte eine junge Frau, die mir durch ihre laute Stimme und ihr wildes Gestikulieren schon von weitem auffällt. Sie redet schnell und mit heftiger Stimme vor sich hin, schüttelt ihr Haupt und unterstreicht ihre Sätze irgendwie mit dem ganzen Körper. Unter ihrem rechten Arm klemmt etwas Langes. Sie trägt schwarze Strümpfe mit diversen Löchern, dunkelblaue Hotpants, einen schwarz-weiss gestreiften Pullover und eine graue Lederjacke. Eine Art Putzlappen verdeckt ihren Hals. Mit ihren hohen Stiefelabsätzen legt sie einen zackigen Schritt hin. Ihre Haare leuchten rot und hüpfen bei jedem Schritt lustig auf und ab. Erst bei näherem Hinschauen stelle ich fest, dass ein Smartphone mit Kabel und Ohrstöpseln mit ihr verbunden ist. Wild um sich gestikulierend scheint sie in ein unsichtbares Mikrophon zu sprechen. Über ihre linke Schulter hängt eine vollgestopfte dunkelgraue Tasche. Unter dem rechten Arm trägt sie eine lange Papierrolle in Plastik eingewickelt. Diese wackelt gefährlich unter ihren wilden Gesten. Jetzt fällt sie herunter und rollt direkt vor die Füsse eines gemächlich vor sich hin spazierenden älteren Herrn. Er bückt sich, um die Rolle aufzuheben und stösst beim Hochkommen in den üppigen Vorbau der weiter hektisch telefonierenden, jedoch abrupt stehen gebliebenen Dame. Diese prallt zurück und reisst dem Herrn die Papierrolle aus den Händen. Der schaut der Frau hinterher, macht ein paar beschwichtigende Handbewegungen und schüttelt den Kopf.
Schon erscheint eine hübsche Mulattin in buntes Tuch gehüllt mit einem Kinderwagen und einem kleinen Jungen an der Hand. Sie lächelt stumm vor sich hin und geht stolzen Schrittes und erhobenen Hauptes in Richtung Gundeldinger-Quartier. Bevor ich sie mit meinem Blick weiter verfolgen kann, verdeckt mir eine Rentnergruppe mit Rucksäcken, Walkingstöcken und farbigen Sonnenhüten die Sicht. Die älteren Leute, fünf Männer und vier Frauen diskutieren heftig darüber, auf welchem Gleis ihr Zug nach Laufen wohl abfahre. Ein Schwarzer mit einem grossen Koffer rennt in Richtung Bahnhofausgang. Ein kleines Mädchen mit weit geöffneten Augen und offenem Mund eilt keuchend hinterher.
Plötzlich ist es vor mir leer. Und still. Ich horche auf. Von weitem höre ich Schritte von schnell auf den Boden knallenden Stöckelschuhen. Schemenhaft erkenne ich sie von weitem. Die Frau mit der Papierrolle kommt von der anderen Seite der Passarelle zurückmarschiert. Ihr vermeintliches Selbstgespräch findet noch immer mit der gleichen Inbrunst und Heftigkeit statt. Sie passt auf ihre Papierrolle auf und fuchtelt gleichzeitig mit der linken Hand in der Luft herum. „Vergiss es!“, schreit sie. „Du kannst mich filmen! Es ist mir sowas von egal, Alter!“ Der Rest geht im Gesang einer Schulklasse unter, welche fröhlich und aufgestellt, mit zwei eher missmutig dreinblickenden Lehrern auf eine Zugsreise zu gehen scheint. Etwas weiter entfernt sehe ich eine Papierrolle durch die Luft fliegen. Zwei Türkinnen mit Kopftuch und langen weiten blauen Kleidern eilen mit zwei Koffern im Schlepptau in Richtung der vorderen Geleise. Zwei Türken folgen. Ein Junge mit Kopfhörern gleitet geschmeidig an ihnen vorbei. Die Papierrolle ist inzwischen in der Menschenmenge verschwunden.
Ein junges Pärchen fällt sich strahlend in die Arme. Sie ist vollgepackt mit grossem Rucksack, Koffer und Tasche. Er mit einem Blumenstrauss in der Hand. Gleichzeitig höre ich im Hintergrund leise Klaviertöne. Seit ein paar Tagen steht ein Klavier in der Passarelle, an welchem sich immer wieder unterschiedliche Talente einem meist nur kurz zuhörenden Publikum präsentieren. Inzwischen hat sich wieder eine grössere Menschenmenge angesammelt. Ein offensichtlich Obdachloser läuft mit zwei riesigen Plastiktaschen langsam an mir vorbei. Er schaut in jeden Papierkorb, ob er etwas brauchbares findet. Was ist für ihn brauchbar? Drei Teenies hüpfen kreischend an mir vorbei. Alle drei tragen Löcher-Jeans, schauen in ihre Smartphones und scheinen trotzdem miteinander in Kontakt zu sein. Ein Geschäftsmann mit Pfeife setzt sich einen Tisch weiter hin und nimmt gemächlich eine Zeitung hervor.
Es ist an der Zeit, mich langsam in Richtung meines Zuges aufzumachen. Ich rufe einer etwas missmutig dreinblickenden Servierdame. Bezahle meinen Kaffee und schenke ihr ein Lächeln und etwas Trinkgeld. Kaum merkbar zucken ihre Mundwinkel ganz leicht nach oben. Ich versuche es nochmals mit einem „Schönen Tag noch“. Aber sie ist schon wieder auf dem Sprung. Mein Zug fährt auf Gleis 12 in Richtung Zürich. Ich nehme meinen Koffer und die Zeitung, die ich mir am Kiosk erstanden habe und mache mich auf den Weg. Als ich hinter mir ein Stakkato von zackigen Schritten höre, drehe ich mich um und sehe tatsächlich die mir wohlbekannte Papierrolle, diesmal wieder in die andere Richtung eilend. Sie schweigt, die Papierrolle hat sie fest im Griff, jedoch hackt sie wie wild mit dem rechten Daumen auf dem Display ihres Smartphones herum. Wahrscheinlich schickt sie die schriftliche Bestätigung ihrer Absage an ihren filmenden Telefonpartner. Oder sie fragt endlich nach, wo sie eigentlich die Papierrolle hinbringen müsse.
Um ein paar Beobachtungen, Eindrücke und Geschichten reicher setze ich mich in meinen Zug und lese genüsslich meine Zeitung.
Fortsetzung folgt